Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christian Noack

 

Olga Kurilo (Hg.): Kurort als Tat- und Zufluchtsort. Konkurrierende Erinnerungen im mittel- und osteuropäischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Avi­nus, 2014. 302 S., 42 Abb., 2. Ktn. ISBN: 978-3-86938-054-4.

 

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1052070892/04

 

Der vorliegende Band versammelt Beiträge einer Tagung, die 2013 den zentral- und osteuropäischen Kurort im Kontext von Gewaltgeschichte und Erinnerungskultur untersuchte. Herausgeberin Olga Kurilo hatte offensichtlich auf eine möglichst klare theoretische Rahmensetzung verzichtet. Einige der elf Beiträge widmen sich denn auch bevorzugt einer der beiden Dimensionen, vor allem der Frage der Gewalt.

In den beiden Beiträgen der ersten Sektion des Bandes tritt diese Gewalt vor allem in Form von sozialen Ordnungsversuchen und polizeilicher Kontrolle im Kurort zutage, da letzterer im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert zum Treffpunkt unterschiedlicher sozialer Schichten und zur Schaubühne für exotische und konkurrierende Lebensentwürfe wird. Wolf Karge beschreibt den Umgang mit Prostitution in Bad Doberan, während Michal Chvojkas Beitrag Melde- und Passfragen, aber auch Bespitzelung in den grenz­nahen schlesischen Kurorten Freiwaldau und Gräfenberg untersucht. In der folgenden Sektion beschäftigen sich die Aufsätze von Uwe Schellinger und Thomas Stop­pa­cher mit der Entwicklung von Kurorten und Einrichtungen, die vermehrt oder ausschließlich von jüdischen Gästen genutzt wurden. Gewalt manifestierte sich zunächst latent in antisemitischen Diskursen, dann offen in Form von Arisierung bzw. Auflösung unter den Nationalsozialisten. Jan Daniluk dagegen fragt nach den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf das bei Danzig gelegene Ostseebad Zoppot. Lediglich Schellinger geht kurz auf die historische Wiederentdeckung seines Falles, des Rothschild-Sanatoriums in Nordrach, durch Lokalhistoriker ein.

Die dritte Sektion, und meines Erachtens zugleich die interessanteste, widmet sich virtuellen Erholungsorten. In Anlehnung an Foucaults Konzept der Heterotopien untersucht Henrike Schmitt den Nexus von imperialer Ausdehnung und Kurbetrieb in der russischen, sowjetischen und postsowjetischen Literatur und liefert damit unter anderem einen Erklärungsstrang für die allgemeine Anerkennung, die Putins Annexion der Krim in der russischen Bevölkerung findet. Nicht weniger passend erscheint Foucaults Begriff für die beiden folgenden Beiträge, ohne dass die Autorinnen explizit darauf Bezug nehmen. In Astrid Köhlers Analyse eines autobiographischen Romans wird ein Kurhotel zum Flucht- und Rückzugsort gestrandeter Gäste während des ersten Weltkriegs. Reka Gulyas beschreibt, wie Sanatorien im ungarischen Spielfilm zu metaphorischen Zufluchtsorten derjenigen werden, die sich den sich rasch verändernden politischen und sozialen Verhältnissen nicht anpassen können oder wollen.

In der vierten Sektion dokumentiert zunächst Michael Wedekind detailreich die Ethnisierung von Erholungsregionen entlang der deutsch-italienischen Sprachgrenze im Alpen­raum vor dem ersten Weltkrieg. In seinem Beitrag dominiert der Gewaltaspekt, während Herausgeberin Olga Kurilo wiederum den Erinnerungsaspekt betont. Sie beschreibt, wie sowjetisches Grenzregime und die konkurrierenden Vergangenheitsdeutungen einer Revitalisierung der Küste Samlands als Tourismusregion entgegenwirken. Ausgewogener werden beide Aspekte im letzten Beitrag behandelt, in dem Andrea Rudorff zunächst die Entwicklung von Zwangsarbeit in Niederschlesien und dem Sudentengebiet infolge der Verlagerung von Rüstungsbetrieben, der Todesmärsche und der Befreiung untersucht. Danach verfolgt sie die Dialektik von Erinnerung und Vergessen in diesen Gebieten unter sozialistischen und postsozialistischen Vorzeichen.

Insgesamt bietet der Band interessante historische Darstellungen und Ansätze. Der Verzicht auf einen klaren Bezugsrahmen und offensichtlich auch nachträglicher Bearbeitung der Kapitel bringt es allerdings mit sich, dass einige der Beiträge über weite Strecken das von Kommentator Hasso Spode beklagte Anekdotische der Orts- und Regionalgeschichten zelebrieren. Vor diesem Hintergrund heben sich vor allem die film- und literaturwissenschaftlich fundierten Analysen des dritten Abschnitts positiv ab.

Christian Noack, Amsterdam

Zitierweise: Christian Noack über: Olga Kurilo (Hg.): Kurort als Tat- und Zufluchtsort. Konkurrierende Erinnerungen im mittel- und osteuropäischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Avinus, 2014. 302 S., 42 Abb., 2. Ktn. = ISBN: 978-3-86938-054-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Noack_Kurilo Kurort_Tat_und_Zufluchtsort.html (Datum des Seitenbesuchs)

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